1.

 

Der Mensch macht Pläne. Wo doch jeder Mensch weiß, daß nichts unplanmäßiger verläuft als das Leben. Und wo doch jeder Mensch auch weiß, daß gerade aus den unplanmäßig eintretenden Dingen das Beste fürs Leben erwächst. Nun ja, jedenfalls im Rückblick gesehen – und, nun ja, jedenfalls manchmal. Andererseits scheinen das Leben und die Welt ohne einen Plan nicht bezwingbar zu sein. Alles ist zu kompliziert, als daß man die Bewältigung der Zukunft dem Zufall überlassen könnte. Selbst die angenehmen Momente, die da auf den Menschen warten wie schaurig-schöne Luftlöcher, bedürfen der Planung. So ist der Mensch gestrickt.

Ja, der Mensch macht Pläne. Doch wie verhält es sich in dieser Sache mit uns, mit meinesgleichen?1 Ich gestehe, es ist um keinen Deut besser bestellt! Auch wir sind dem Pläneschmieden verfallen, wenn auch in einer entspannten Art und Weise. Und was mich persönlich betrifft, bin ich vom Planen geradezu besessen. Läuft etwas nicht nach Plan, stürze ich in Konfusion. Das passiert selbstverständlich fortlaufend. Denn wenn überhaupt etwas nach Plan verläuft, dann allein die Tatsache, daß unsere Körper irgendwann eine appetitliche Bekanntschaft mit den Würmern machen werden!

Der Plan war folgender: Frühling, o du farbenprächtiger Lenz, o du homöopathisches Viagra für angejahrte Männer, o du junger Prinz unter den Jahreszeiten, der du selbst mein altes Blut zu vitalisieren vermagst! Dieser gern gesehene Herrscher also stand vor den Toren unseres Reviers und hatte bereits seinen frischen Atem in Gestalt wild knospender Flora und verschwenderischen Sonnenscheins vorausgeblasen. Vorbei die eisigen Weihnachtstage, an denen ich wie ein Narkotisierter auf, unter, neben und, wie ich mich dunkel erinnere, bisweilen auch in der Heizung lag und noch tagelang an den Knochen der Weihnachtsgans lutschte, die Gustav seinem Kuhmagen entsprechend in der Größe einer Kuh zubereitet hatte. Vorbei auch Januar, Februar und März, die Periode dieser flegelhaften Gebrüder, die sich ständig untereinander darum zankten, ob es nun regnen, schneien, frieren oder neblig werden sollte. Der Mai hatte schon einen Fuß in der Tür und ich meinen Kopf in den Wolken.

Ich blinzelte aus dem geöffneten Toilettenfenster auf die Gärten an der Rückseite unseres Gründerzeitaltbaus, welche geradezu in satten Farben und stimulierenden Wohlgerüchen explodierten. Schmetterlingsschwärme flatterten über den im Irrgangmuster angelegten Ziegelsteinmauern. Die verwitterten, meist aus Backstein erbauten Rückfassaden der im Karree errichteten alten Häuser strahlten ungläubig wie Blinde nach der erlösenden Operation. Vogelfamilien zwitscherten um die Wette, Menschenfamilien ließen sich auf ihre Gartenliegen sinken und holten sich den ersten Sonnenbrand. Und Mäusefamilien zeugten Nachwuchs, als gäbe es kein Morgen beziehungsweise uns!

Ach ja, der Plan! Er mochte sich für Außenstehende vielleicht ein bißchen trivial anhören. Genauer gesagt handelte es sich auch um gar keinen richtigen Plan, sondern schlicht und einfach um die Sehnsucht nach dem Paradies. Noch genauer um den Wunschtraum, der mich jedes Frühjahr heimzusuchen pflegt: nachmittags unter schattenspendenden Bäumen dösen, lahm nach Fliegen haschen, beim Sonnenuntergang unbekümmert durchs Revier streifen, den einen oder anderen Kollegen bei seinen Gaunereien überraschen und ihm eins hinter die Löffel geben und schließlich die Herzensdame aufspüren und mit ihr beim Sonnenaufgang eins werden. Kurz, die warmen Tage genießen.

Ich gebe zu, daß derlei Hoffnungen in meinem Alter mit der Wirklichkeit so viel zu tun haben wie der Engelsglaube bei Kindern. Schließlich existiert ein unbestreitbarer Zusammenhang zwischen der realen Jahreszeit und jener, in welcher man altersbedingt selber steckt. Und wenn ich mir in letzter Zeit die stichelnden Bemerkungen meiner hochgeschätzten Artgenossen, das brennende Desinteresse der schnurrhaarigen Damenwelt und die immer mitleidiger werdenden Blicke von »tierlieben« Menschen bei meinem Anblick vergegenwärtigte, befand ich mich längst im arktischen Winter! Doch sei’s drum, ich hielt an dem Plan fest, denn wenn dieser mir auch nicht die Aussicht auf einen zweiten Frühling verhieß, so doch immerhin die auf den sechzehnten.

Es gab da allerdings einen gewaltigen Kontrast. Nämlich den zwischen meiner frohgemuten Stimmung und der verzweifelten Lage, in der sich Gustav gegenwärtig befand. Gustav? Nun, das ist der hundertdreißig Kilo schwere, fast kahle, mit dem Aussehen eines zur Sprengung freigegebenen Industriesilos geschlagene achtundfünfzigjährige »Dosenöffner«, der, was wohl, mir die Futterdosen zu öffnen pflegt. Er besitzt alles, was ein erfolgreicher Mann in seinem Alter nicht besitzt: einen zerschlissenen Frottee-Morgenmantel aus der Gert-Müller-Ära, in dem er morgens mit seinem mörderischen Rotwein-Kater und bleichem Stoppelbart-Gesicht etwa so aussieht wie ein monatelang gefolterter Kriegsgefangener, der endgültig zur Hinrichtung geführt wird.

Verantwortungsvoll wie er ist, hat er stets ein Präservativ im Portemonnaie, das nach fünfzehnjähriger Unberührtheit so fest mit dem Innenleder verwachsen ist, daß es wie eine kunstvolle Prägung wirkt. Des weiteren hat er ein unfehlbares Gespür für Verdienstmöglichkeiten unterschiedlichster Art, welche wirklich alles ermöglichen, nur keinen Verdienst. Habe ich schon den Job als »Tortenvisage« im hiesigen Vergnügungspark erwähnt, wobei hyperaktive Kinder ihm für drei Euro Torten in die Visage schleudern durften? Oder das Vertreiben von Schweizer Kuckucksuhren aus Sri Lanka übers Internet?

Und warum das ganze Elend? Weil der gute Mann ein Forscher ohne Anerkennung ist, ein verkanntes Genie, das zur Vermarktung seines Wissens etwa so viel Talent besitzt wie ein Stimmbandamputierter zum Arienschmettern. Gustav, ein weltweit geachteter Archäologe, vermochte mit seinen detaillierten Kenntnissen über das ägyptische Götterwesen und über das Römische Reich nie eine dauerhafte Anstellung in einem Institut zu ergattern. Hier und da mal ein kurzes Intermezzo als Sachbuchautor, das war’s dann aber auch schon mit dem seriösen Broterwerb gewesen. Der Rest bestand aus einer tragikomischen Abfolge von Bemühungen, unser beider Mägen zu füllen, wobei, das muß ich zu unserer Schande gestehen, bisweilen auch das Kreieren von skurrilen Diäten für Frauenmagazine dazugehörte. Vielleicht ist Ihnen die sogenannte Luft-Diät noch ein Begriff: Man schnappt vor jeder Essenszeit zehnmal nach Luft und bildet sich hinterher ein, man sei satt. Für einen Kerl, der den Appetit und die Gestalt eines Blauwals besitzt und einen Totalzusammenbruch erleidet, wenn nicht in jeder seiner Mahlzeiten mindestens dreitausend Kalorien stecken, wahrlich der Gipfel der Selbstverleugnung. Ein Wunder, daß er sich diese hübsche, wenn auch stark heruntergekommene Altbauwohnung leisten konnte.

Bin ich undankbar? Klingt das nach den Betrachtungen eines Luxusgeschöpfs, das die Hand, die ihn füttert, auch noch verhöhnt? Wenn dieser Eindruck entstanden sein sollte, so trifft er nur zum Teil zu. Gewiß, einen Allround-Versager wie Gustav zu verspotten, bedarf es keiner Kunst. Man möge sich nur jene slapstickhafte Aktion vergegenwärtigen, in der sich eine an das Michelin-Männchen gemahnende Gestalt in die Badewanne zwängt, mit ihren mehreren Kubikmetern fast das ganze Wasser verdrängt, so daß das ganze Bad schnell dem Showdown aus dem Buch Noah ähnelt. Am Ende bleibt er auch noch in dem verdammten Trog stecken und kann erst nach stundenwährenden Hilferufen von den Nachbarn herausgehievt werden. Oder man möge an jenen erbarmungswürdigen Selbstmordversuch denken, der ausgerechnet am Galgenstrick scheitert – aber anders als gedacht: Berufliche Perspektivlosigkeit gepaart mit chronischer Geldnot treiben unseren Helden zu dieser gottlosen Tat, und da er um sein ehrfurchtgebietendes Gewicht weiß, ersteht er mit seinen letzten Kröten im Baumarkt ein Qualitätsseil, an dem problemlos ganze Tanklaster baumeln können. Zu Hause (und unter den entsetzten Blicken seines Haustiers) knüpft er am Lampenhaken der Wohnzimmerdecke einen soliden Strick, steigt auf einen Stuhl, brabbelt konfuse Abschiedsworte, steckt seinen Kopf in die Schlinge – da klingelt es an der Tür. Überraschung, Überraschung, der Gerichtsvollzieher ist da! Dieser, ganz emotionsloser Beamter, inspiziert die gesamte Wohnung nach pfändbaren Kostbarkeiten, wird jedoch an keiner Stelle fündig. Bis er schließlich auf das funkelnagelneue Seil aufmerksam wird und das gute Stück gleich mitnimmt.

Tja, auch Suizid ist heutzutage eine Frage des Geldes.

Mögen jedoch seine Taten noch so lächerlich klingen, an Gustav selbst ist nichts Lächerliches. Er war es, der mir von Kindesbeinen an ein fürstliches Obdach gewährte, wobei ich freilich vermittels Hungerstreik bei minderwertiger Futterdarreichung und erbitterter Kämpfe um den Platz auf dem Lieblingssessel etwas nachhelfen mußte. Und er war es auch, der mir die bitternötigen Streicheleinheiten nach geschlagenen Schlachten zuteil werden ließ, der mich aufmunterte in trostlosen Tagen und mir Geborgenheit gab in einer Welt voller Grauen und Wahnsinn. Ja, Gustav war es, der mich in den Mittelpunkt seines Lebens stellte und sich mit der Rolle des Dieners zufrieden gab.

Um so bedrückender war es jetzt, mit ansehen zu müssen, wie der treue, wenn auch ziemlich beschränkte Gefährte an einem Punkt seines Daseins angelangt zu sein schien, wo es tatsächlich nicht mehr weiterging. Weder halfen jetzt Abstiege in die Niederungen des Internet-Verkaufs von Tinnef made in Bangladesch noch verzweifelte Anrufe bei Museen in aller Welt, daß man ihn doch wenigstens als Touristenführer über die Sommersaison beschäftigen möge. Es war der Tag, an dem wegen unbezahlter Rechnungen die Telefonleitung gekappt zu werden drohte, der Tag, an dem Gustav endgültig in Konkurs ging. Für einen weiteren Selbstmordversuch war er einfach zu alt und für einen Neubeginn ebenfalls. Trotz des überwältigenden Sonnenscheins trübte der Schatten einer schwarzen Wolke unser Gemüt.

Ich war hin- und hergerissen zwischen den Verlockungen da draußen und dem Pflichtgefühl, Gustav in seiner schwersten Stunde beizustehen. Ich sah ihn im Arbeitszimmer am Schreibtisch mit versteinertem Gesicht ins Leere starren. Wieder kämpften zwei gegensätzliche Impulse in mir. Was sollte ich tun? Schnell hinauslaufen, wie es meinem Plan und meiner Natur entsprach, und beim Flirt mit einer spitzohrigen Schönen alles zu vergessen suchen? Oder um die Beine meines gescheiterten Freundes streifen, um ihm auf meine Weise Trost zu spenden? Doch was würde das an der schlimmen Lage ändern?

Das Telefon läutete. Offenkundig hatte bei der Telefongesellschaft irgendeiner geschlafen und gnädigerweise den Rückstand übersehen. Noch! Gustav ließ den Apparat weiterläuten und stierte immer noch wie in Kunstharz gegossen aus dem Fenster. In dem hereinflutenden Gegenlicht wurde er zum Scherenschnitt eines traurigen Buddhas. Das Telefon läutete schrill und grausam weiter, und ich war versucht, hinzujagen und den blöden Hörer selbst vom Apparat zu reißen, um Ruhe einkehren zu lassen.

Endlich nahm Gustav mit einer unerträglich langsamen Bewegung ab. Er wirkte immer noch wie betäubt, als er den Hörer ans Ohr führte und das Gehörte abwesend und leise mit »Hmm … hmm … hmm« und »Ja … ja … ja«

kommentierte. Gewöhnlich rief ihn niemand an, und wenn, dann nur, um schlechte Nachrichten zu übermitteln.

Vielleicht hatte die Schlafmütze bei der Telefongesellschaft ihren Fehler bemerkt und teilte mit, daß man die Leitung augenblicklich sperren würde.

Da schien in Gustav etwas vorzugehen. An der Haltung des traurigen Buddhas zeigten sich spektakuläre Veränderungen. Der massive Oberkörper richtete sich sukzessive auf, beugte sich nervös vor und zurück, als konzentriere er sich scharf, der Melonenkopf schnellte hin und her und nickte wie verrückt, und das aufgeschwemmte Gesicht wurde von tausend Zuckungen heimgesucht. Mein Gott, man verkündete doch nicht gerade die Einführung der Todesstrafe durch die Giftspritze für säumige Zahler!

Dann stand er auf und machte die Andeutung einer Bewegung, die dem Salutieren verdammt nahe kam. Zum Abschluß des Gesprächs sagte er erneut »Hmm … hmm … hmm« und »Ja … ja … ja«, diesmal allerdings geradezu euphorisch. Vermutlich hatte die Zwickmühle des Lebens ihm endgültig den Verstand geraubt.

Er stand noch lange reglos da, nachdem er aufgelegt hatte. Den Rücken mir zugewandt, eine hünenhafte Silhouette in der von Staubpartikeln verwirbelten Helligkeit des Fensters, umrahmt von den bis an die Decke reichenden Regalen an jeder Wand mit mindestens zweitausend Büchern und Bildbänden. Ein geschlagener König in seinem Reich, aus dem er bald vertrieben würde.

Und mit ihm wohl auch ich. Ach, ich hätte in Tränen ausbrechen mögen – vornehmlich über mich selbst, betrachtete ich doch dies Reich und den einen Quadratkilometer drum herum mehr als mein eigen denn als seins.

Plötzlich wandte sich Gustav mit einer eleganten Drehung zu mir, und ich befürchtete schon, er würde abscheuliche Fratzen ziehen, zu blöken beginnen oder sonst etwas Ähnliches veranstalten, wie man es von vor Kummer Übergeschnappten erwartet … Aber nein, nichts dergleichen. Er lächelte glückselig, so glückselig wie jemand, der die Eine-Million-Frage beantwortet hat.

Und weil mein Lebensgefährte gerade keinen Zuhörer zur Hand hatte, der seine Freude mit ihm teilen konnte (was übrigens nie der Fall war), nahm er kurzerhand mit mir vorlieb. In Form eines Selbstgespräches sprudelte die Telefonbotschaft nur so aus ihm heraus, obwohl er natürlich nicht wissen konnte, daß ich sie auch verstand.

Ich hörte ihm aufmerksam zu, verlieh mir aber dabei einen Ausdruck, der dem eines Lebewesens mit dem IQ eines Luftballons glich. Nachdem er seinen Bericht beendet hatte, rannte er ins Schlafzimmer und begann zu packen.

Ich blieb wie vom Blitz gestreichelt zurück und versuchte, mich nicht allzusehr über den Verlust des Seils zu ärgern, das seinerzeit der Gerichtsvollzieher mitgenommen hatte.

Noch eben das Objekt meines Mitgefühls, hatte es Gustav innerhalb weniger Minuten geschafft, sich in meinen Augen in die Galerie der schlimmsten Widerlinge menschlichen Geschlechts einzureihen. Was aber war nun der Inhalt des Telefongezwitschers, das die Düsternis im Hause Gustav Löbel zu hundert Prozent entwölkt hatte?

Ganz einfach: die Durchkreuzung meines Plans zu zweihundert Prozent!

Der erste Teil der Nachricht klang noch wie die sprichwörtliche Rettung in letzter Minute. Der Anruf kam aus Bella Italia, genauer gesagt aus Rom und noch genauer geradewegs von der »Sopraintendenza Comunale ai Monumenti Antichi e Scavi«, also der römischen Verwaltungsbehörde für antike Bauwerke und Ausgrabungen. Soviel ich Gustavs hastigem Gebrabbel entnehmen konnte, hatte man ihm mitgeteilt, daß man im Forum Romanum Hinweise auf eine bis heute übersehene Katakombe der Urchristen gefunden habe. Und zwar genau an der Stelle, an der Gustav sie in einem wissenschaftlichen Artikel schon vor ein paar Jahren vermutet hatte. Die römischen Archäologen sahen deshalb in meinem guten alten Pleitegeier den geistigen Vater der Entdeckung und bestanden darauf, daß er persönlich herdüse und die Ausgrabungen überwache.

Fünfzigtausend Euro seien der Behörde seine Dienste wert. Man sei sogar bereit, die Hälfte der Summe sofort als Vorschuß herauszurücken, wenn er sich noch heute zur Ewigen Stadt begebe. So weit, so paradiesisch.

All unsere Probleme schienen also mit einem Schlag gelöst. Und die Probleme für die absehbare Zukunft ebenso. Was wollte ich mehr? Zweierlei: Erstens Rom sehen und sterben. Im Lauf der Jahre war ich nämlich von Gustavs Passion für Orte, deren Namen schon die Phantasie beflügeln, nicht unberührt geblieben. Rom – es war nicht nur ein Name, sondern ein Traum, den ich mir durch heimliche Lektüre aus seiner Bibliothek herbeigeträumt hatte. Das Kapitol, das Kolosseum, das Pantheon, die Villa Borghese, die Spanische Treppe, der Trevi-Brunnen, der Campo de’ Fiori, die verwinkelten Gassen von Trastevere, die tausend Kirchen, die prächtigen Palazzi, die in Würde verwitterten Brücken über dem Tiber, die unzähligen Brunnen, der Vatikan …

Ja, es kam mir so vor, als sei ich in einem früheren Leben selbst ein römischer Schnurrer gewesen und hätte meine Erdentage auf den Säulenrudimenten und auf den mit Terrakotta-Blumenkübeln bestückten Dachterrassen dieser Hauptstadt der Welt verbracht. Alle Wege, auch die meinen, führten nach Rom, das hatte ich schon immer gewußt. Denn zu sterben, ohne Rom gesehen zu haben, wären ein Leben und ein Tod ohne Sinn gewesen.

Gustav, ausgestattet mit der Sensibilität eines Ambosses, ahnte freilich von all meinem Sehnen nichts, als er mir von seinem bevorstehenden Arbeitsurlaub erzählte. Und er setzte noch einen drauf, indem er gestand, daß er mich nicht mitzunehmen gedenke. Das schon war eine Unverschämtheit sondergleichen! Sein Argument, ich würde ihn bei den Ausgrabungsarbeiten nur stören, konnte er sich dort hineinstecken, wo der Mond nicht scheint.

Tränenschwälle vergießend wäre ich dennoch bereit gewesen, hier auszuharren, auf seine Rückkehr zu warten und von Rom weiterhin nur zu träumen. Wenn er mir bloß meinen Plan gelassen hätte.

Aber das hatte er eben nicht vor. Womit wir beim zweiten Punkt wären, weshalb ich ihm nicht nur den Strick an seinen feisten Hals wünschte, sondern das komplette Folterprogramm der Inquisition. Mein Dosenöffner hatte Teuflisches im Sinn. Er wollte mich in seiner Abwesenheit an andere Dosenöffner überantworten. Aber nicht etwa an Archie, einen Zwangsjacken-Dressman, der ein Stockwerk über uns haust und sein Geld vermutlich damit verdient, indem er seinen Körper angehenden Medizinern als fleischgewordenes Schaubild des Drogenmißbrauchs feilbietet. Der hatte sich nämlich schon vor ein paar Wochen in Richtung Süden abgesetzt, weil ihn wohl der Ruf des Frühlings etwas vorzeitig erreicht hatte. Flausen nachhängen und Leute übers Ohr hauen kann man ja bekanntlich auch unter südlicher Sonne.

Nein, Gustav hatte mit mir etwas wirklich Grausames vor. Er wollte mich während seiner Abwesenheit unter »professioneller Betreuung« wissen. In einem Heim für meinesgleichen, zum Würgen niedlich »Pension Pfote«

genannt. Darin gaben verantwortungslose Menschen ihre Lieblinge während des Urlaubs oder während ihrer blöden Dienstreisen ab. Unglaublich! Schockierend!

Tierverachtend! Ich sollte in den Knast und mir tagein, tagaus die tragischen Lebensbeichten von vor Einsamkeit schwachsinnig gewordenen Mitgefangenen anhören, damit mein sogenanntes Herrchen sich im schönen Rom als Einstein der Archäologie feiern lassen konnte. Meine Antwort darauf: Kommt nicht in Frage!

Bereits eine Sekunde nachdem Gustav das freudige Ereignis fertiggehechelt hatte und ins Schlafzimmer verschwunden war, um seine teilweise noch aus den Siebzigern stammenden Klamotten zusammenzupacken, keimte ein neuer Plan in meinen Gehirnzellen. Ja, so könnte es funktionieren … Allerdings nur, wenn der Tierfeind wie üblich diesen wie der monströse Buckel eines Gnoms aus einem Fantasy-Film aussehenden Rucksack als Gepäck mitnehmen würde. Und auch nur dann, falls er, Schussel, der er war, ihn oben zuzuschließen vergaß. So könnte es tatsächlich klappen.

Und wenn es das tat, dann würde mein Plan nicht nur Wirklichkeit werden, sondern sogar noch sich selbst übertreffen.

Bepackt und gekleidet wie der dämlichste Tourist stand Gustav schon nach einer halben Stunde in der Diele und schaute mich mit geheucheltem Mitleid an. Der Rucksack, vermutlich noch aus seinen seligen Tramperzeiten stammend, als er als junger Blauwal sinnlos durch die Welt vagabundiert war, hing an seinem Rücken. Natürlich oben unverschlossen. Ein Etappensieg! Er trug eine Golfmütze und kunterbunte Shorts, als breche er zu einer Betonburg an der Costa del Sol auf. Wenn die römischen Gelehrten ihn so erblickten, würden sie ihn wahrscheinlich in diese urchristliche Katakombe stecken und sie dann wieder zuschütten.

Nachdem er sich telefonisch ein Ticket am Flughafenschalter reserviert hatte, schob er mit einem Fuß den Plastikkorb, in dem ich gewöhnlich für den jährlichen Check zum Onkel Doktor transportiert werde, hinter dem Türpfosten hervor. Ich tat so, als hätte ich keine Ahnung von seiner Absicht. Zufrieden darüber, daß ich offenkundig keinen Ausreißversuch zu unternehmen gedachte, kam er zu mir, ergriff mich am Bauch und steckte mich in den Kasten. Ein letzter Kontrollblick auf den abgedrehten Gasherd und die ausgeknipsten Lichtschalter, und schon waren wir mit dem betagten Citroën CX-2000 unterwegs zu unseren vermeintlich so unterschiedlichen Zielen.

Ich muß gestehen, daß der Laden, der in einem Altbau in einer ehemaligen Bäckerei untergebracht war, von außen nicht gerade wie die Folterkammer des Dr. Fu ManChu wirkte. Durch ein großes Schaufenster konnten sich vorbeispazierende Passanten von der einwandfreien Pflege der Gefangenen überzeugen und sich an ihrem Anblick unter nicht enden wollenden Ach-wie-süß!-Jauchzern ergötzen. Daß grenzenlose Langeweile auch eine Art der Folter sein konnte, kam ihnen dabei nicht in den Sinn.

Drinnen an der Empfangstheke erwartete uns eine dürre, ergraute und ganz in schwarz gekleidete Alte, die gute Chancen hatte, in der Walpurgisnacht zur »Ms.

Knöterich« gekürt zu werden. Sie lächelte das Lächeln einer Marionette, wobei ihr Unterkiefer ruckartig hoch-und runterklappte, während der Rest des Gesichts völlig starr blieb. Die Tierliebhaberin nannte Gustav für die einmonatige Pflegschaft einen Preis, für den man auch locker achtzig Hektar besten Fichtenwalds in Kanada hätte kaufen können. Während mein falscher Freund noch mit den blutdrucksteigernden Auswirkungen des Preisschocks kämpfte, öffnete er en passant die Gittertür des Korbs, damit ich mich in dem Verlies etwas umschauen und, wie er glaubte, akklimatisieren konnte.

Alles war genauso, wie ich es erwartet hatte – genauso schlimm. Es handelte sich um einen durch Sperrgitter unterteilten großen Raum mit tribünenartig ansteigenden Holzpodesten. Darauf standen Puppenbettchen und Kissen, in denen sich zirka dreißig Art- und Leidgenossen ins Delirium dösten. Diejenigen, die wach waren, stierten apathisch vor sich hin. Überall auf dem Boden standen Futter- und Wassernäpfe sowie Toilettenbehälter verteilt, so daß in der Luft ein Gestank hing, als habe sich ein Riese soeben erbrochen und gleich drauf seine Notdurft verrichtet. Geradezu depressionsauslösend wirkten »Spielzeuge« wie an Schnüren von der Decke baumelnde Glöckchen, die so neu aussahen wie am Tag ihrer Erwerbung. Die hier Weilenden spielten nicht mehr.

Ich kam an einem grauköpfigen Perser vorbei, der in einem dieser putzigen Püppchenbetten stand und die Decke im Auge behielt.

»Was fesselt so deine Aufmerksamkeit, Bruder?« sagte ich, von seinem heftigen Grimassieren, das zwischen Furcht und großer Erwartung schwankte, gleichermaßen fasziniert.

»Sie kommen immer näher«, antwortete er.

»Wer?«

»Na, die Mäuse.«

Ich hob den Kopf und inspizierte die Decke nach etwas Mäuseartigem. Ergebnislos.

»Ich sehe dort oben aber keine Mäuse.«

»Es sind keine normalen Mäuse.« Seine weißen Schnurrhaare vibrierten unter Anspannung wie unter Starkstrom, ja, der ganze verfilzte Kopf zitterte so fiebrig, als würde er jeden Moment explodieren.

»Sie kommen vom Planeten Nagor-X und können sich unsichtbar machen – und durch feste Materie dringen.«

»Ich verstehe«, sagte ich, nickte mitleidig und wollte ihn ganz seinem Studium des außerirdischen Mäusevolks überlassen.

»Hör nicht auf den Spinner!«

Ich wandte mich um und stand einer attraktiven Ägyptischen Mau gegenüber. In ihren grünen Augen schienen sich die Algengründe aller Ozeane wiederzuspiegeln. Ihr dunkel gemusterter Schwanz, der aus einem sandfarbenen Körper mit Geparden-Tupfern wuchs, streifte über mein Gesicht.

»Der Typ gehört längst eingewiesen«, sagte sie, rückte ganz nah an mich heran und tat ungemein verschwörerisch. »Es gibt gar keinen Planeten namens Nagor-X. Sie stammen in Wahrheit vom Planeten Harfohr-X. Es sind auch keine Mäuse, sondern Kakerlaken. Außerdem können sie nicht durch Materie dringen, wie dieser Idiot behauptet, nein, sie schießen aus ihren Augen Laserstrahlen ab!«

Soviel zum Geisteszustand der »Gäste« in diesem Etablissement.

»Hab’ mir so etwas Ähnliches schon selbst gedacht, Liebste«, tröstete ich sie. »Aber es hätte schlimmer kommen können. Stell’ dir vor, du müßtest Steuern zahlen!«

Ich zog weiter.

Ein roter Zeitgenosse, der meinen Weg kreuzte und sich in einem ungefähren Wachzustand befand, legte tatsächlich gerade seine Lebensbeichte ab.

»… und da sagte Mama zu mir, entferne dich nicht so weit von meinen Zitzen, Otti, o ja, ich kann mich genau erinnern, das sagte sie, denn im Garten sind die Hunde, sagte sie, du weißt, was Hunde sind? mein Kleiner, das sind ganz große Tiere, die ganz große Haufen machen, sie aber im Gegensatz zu uns nicht verscharren, damit Menschen drauftreten, was die Hunde wiederum total lustig finden, ich übrigens auch, sagte Mama …«

Genausogut hätte mich Gustav auch in der Klapsmühle abliefern können, was ihm, nebenbei bemerkt, wesentlich kostengünstiger gekommen wäre, wenn ich seine aufgebrachte Feilscherei mit der Walpurgisnachthexe richtig interpretierte. Reine Zeit- und Energieverschwendung. Denn eher hätte ich mich durch den Verzehr eines Hundehaufens selbst vergiftet, als bei diesen Irren auch nur eine einzige Stunde auszuharren.

Deshalb schritt ich sogleich zum nächsten Abschnitt meines Plans.

Wie schon erwähnt, hatte Gustav allerhand zu tun, die alte Hexe von einem Preisnachlaß zu überzeugen, bevor sich der Flieger mit ihm in die Lüfte hob. Beide beachteten mich nicht, weil sie wohl selbstredend davon ausgingen, daß es aus diesem Loch kein Entrinnen gab.

Aber es gab eins, und was für ein simples!

Verschwitzt und rotangelaufen vor lauter Verhandlungsstreß, hatte Gustav den Rucksack inzwischen neben seinen Füßen abgelegt. Das entscheidende Zeitfenster schien sich nun für mich geöffnet zu haben. Für ein paar Atemzüge fühlte ich mich sowohl den Blicken der beiden erregten Verhandlungspartner als auch der Klapsmühleninsassen entzogen. Die Letzteren beobachteten ja ohnehin lieber die mannigfaltigen Bedrohungen aus dem Weltall. Ich schlich mich ganz langsam zur Empfangstheke, und als ich endlich in unmittelbarer Nähe von meines Dosenöffners Elefantenfußen angelangt war, bestand keine Gefahr mehr, daß noch irgendwer meine geheime Aktivität bemerken würde. So kroch ich in aller Gemütsruhe in den offenen Rucksack und machte es mir darin gemütlich.

Nach einer Weile vernahm ich durch den Stoff, daß man handelseinig geworden war und nunmehr abschließende Nettigkeiten austauschte. So langsam wurde auch meine Abwesenheit registriert. Gustav war darüber ein bißchen besorgt, doch die abgefeimte Wärterin meinte, daß gewöhnlich alle ortswechselgeschockten Neuankömmlinge sich die ersten Stunden unter den Podesten verkriechen würden. Der Hunger würde sie bald wieder aus ihren Löchern zu den Futternäpfen treiben.

Dabei stieß sie einen kehligen Laut aus wie eine Hyäne in tiefster Nacht, was sich wohl wie schelmisches Lachen anhören sollte. Er solle zusehen, daß er seinen Flieger erwische, denn erfahrungsgemäß würde es eine kleine Ewigkeit dauern, in diesem labyrinthischen Arrangement das Versteck seines kleinen Freundes zu finden. Gustav tat noch einigermaßen beunruhigt, aber in Gedanken schien er schon weit weg zu sein. Kurz, er ließ sich gern die Alles-ist-in-bester-Ordnung-Botschaft einflößen. Oder anders ausgedrückt: Mein Plan war aufgegangen. Doch als er auch noch die Unverfrorenheit besaß, mit scheinheiliger Traurigkeit zu beteuern, daß er seinem lieben Francis noch so gern ein inniges Lebewohl gesagt hätte, wäre ich am liebsten aus diesem verdammten Rucksack herausgeplatzt, auf sein Nilpferdgesicht gesprungen und hätte meine weit ausgestreckten Krallen innigst darin eingegraben!